HWV 37 (II/36: Notenband mit Kritischem Bericht), herausgegeben von Wolfgang Hirschmann, Kassel 2023
„Giustino“ war die erste Oper, deren Komposition Händel für die Opernsaison 1736/37 am Covent Garden Theatre in Angriff nahm. Ihre hauptsächliche textliche Grundlage bildete das Libretto von Antonio Vivaldis gleichnamiger Oper von 1724, das für London einschneidend überarbeitet wurde; Händel kannte und studierte auch Vivaldis Partitur.
Er schrieb den 1. Akt vom 14. bis zum 29. August 1736, schloss den 2. Akt am 3. September und den 3. Akt nur vier Tage später am 7. September ab. Die endgültige Vervollständigung der Partitur (das „Ausfüllen“) nahm Händel allerdings erst vom 15. bis 20. Oktober vor. Dazwischen liegt die Komposition von „Arminio“, HWV 36, die am 15. September begonnen und am 14. Oktober beendet wurde. In der Partitur von „Arminio“ konnte der Komponist bereits berücksichtigen, dass der italienische Oboenvirtuose Giuseppe Sammartini in der kommenden Saison in Händels Opernorchester mitwirken würde. Es lag für Händel nahe, auch in „Giustino“ für den Oboisten eine oder mehrere Solopartien nachzutragen. Hinzu kam, dass sich der Komponist nach Abschluss der „Arminio“-Partitur dazu entschloss, jeweils eine von zwei Basspartien, die er für beide Opern vorgesehen hatte (Amanzio und Polidarte in „Giustino“, Tullio und Segeste in „Arminio“), für die Altistin Maria Caterina Negri, eine Spezialistin für Hosenrollen, umzugestalten (Amanzio und Tullio).
Wann Händel diese Revisionen durchführte, ist unklar. Immerhin lässt sich zeigen, dass er in „Giustino“ zunächst die ursprüngliche Basspartie des Amanzio für Altstimme einrichtete und erst danach die Solopartien für Sammartini einarbeitete. Gegenüber der Frühfassung der Oper, die am 20. Oktober 1736 abgeschlossen war, ergaben sich bis zur Uraufführung noch weitere Änderungen, die sich zusammen mit den bereits erwähnten Überarbeitungen zu einer Erstaufführungsfassung zusammenschließen.
Zuerst wurde „Arminio“ am 12. Januar 1737 uraufgeführt; dann folgte am 16. Februar die Erstaufführung von „Giustino“, eine Probe ist für den 7. Februar nachweisbar. Zwischen dem Beginn der Komposition der Oper und ihrer Erstaufführung liegt also ein halbes Jahr. Folgende Sängerinnen und Sänger sangen die Rollen in Giustino:
Giustino – Domenico Annibali, Alt-Kastrat
Anastasio – Gioacchino Conti, Sopran-Kastrat
Arianna – Anna Maria Strada del Pò, Sopran
Leocasta – Francesca Bertolli, Alt
Amanzio – Maria Caterina Negri, Alt
Vitaliano – John Beard, Tenor
Polidarte – Henry Theodore Reinhold, Bass
Fortuna – William Savage, Sopran
Die „Voce dentro il sepolcro“ im 3. Akt (Szene 7) sang wahrscheinlich Henry Theodore Reinhold. Weitere Aufführungen folgten am 19., 22. und 25. Februar, am 2. und 4. März, am 4. und 11. Mai sowie am 8. Juni 1737. Am 21. Februar wurde zur Subskription des Walsh-Druckes der Oper aufgerufen, der am 30. März erschien.
Die Saison war sehr stark vom Konkurrenzdruck der Opera of the Nobility geprägt, die zum
Zeitpunkt der Aufführungen von „Giustino“ Opern von Giovanni Battista Pescetti aufführte:
Demetrio (am 15., 19., 22. und 26. Februar) sowie das Pasticcio Sabrina (am 3., 7., 10. Mai und später), verbunden mit Intermezzi von Giuseppe Maria Orlandini und Domenico Sarro. Dass Händel nach seiner schweren Erkrankung ab Mitte April, die mit Lähmungserscheinungen im rechten Arm einherging, die Aufführungen von „Giustino“ im Mai und Juni bereits wieder vom Cembalo aus leiten konnte, ist unwahrscheinlich.
„Giustino“ wurde von Händel in späteren Spielzeiten nicht wiederaufgenommen; er verwendete aber zahlreiche Arien und eine Sinfonia aus der Oper in seinen Pasticci „Alessandro Severo“, HWV A13, und „Giove in Argo“, HWV A14, sowie in einer revidierten Fassung von „Semele“, HWV 58.
Die Neuausgabe der HHA teilt im Hauptteil die Erstaufführungsfassung und im Anhang die
konzisere, dramaturgisch schlüssigere Frühfassung der Oper mit.
(Quelle: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jahresbericht Hallische Händel-Ausgabe 2023)