30. und 31. Mai 2016
Mit dem Thema „Mythos Aufklärer – Mythos Volk? Zwei Topoi der Händel-Rezeption und ihre Kontexte” fügt sich die Internationale Händel-Konferenz 2016 eng in die Händel-Festspiele ein, die unter dem Motto „Geschichte – Mythos – Aufklärung” stehen.
Georg Friedrich Händel war nicht nur einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit, er gehört auch zu den ersten Komponisten der europäischen Musikgeschichte, die als ‚große’ Musiker im Denken und Schreiben über Musik präsent blieben und deren Werk kontinuierlich aufgeführt wurde. Die Geschichte der Rezeption Händels verlief allerdings nicht geradlinig; sie weist Brüche und Widersprüche auf, aber auch Konstanten, von denen einige bis in die Gegenwart reichen und unser Bild von Händel und unseren Umgang mit seiner Musik – bewusst oder unbewusst – maßgeblich prägen.
Eine dieser Konstanten ist der für die Rezeption des Komponisten und seiner Musik zentrale Topos von Händels (angeblich) enger Verbindung zum ‚Volk’. Bereits in der frühesten Händel-Biographie (John Mainwarings Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel, London 1760) werden zwei wichtige Aspekte miteinander verknüpft: Händel – so heißt es – habe seinen musikalischen Geschmack nach dem seiner deutschen Landsleute geformt. Seine Musik mit ihren „sublime strokes” wiederum spreche nicht nur den Kenner an, sondern jedermann („durch seine erhabne Züge, deren er viel hat, wirket er mit eben der Stärke sowol auf die Klügsten, als auf die Unwissenden”; Mainwaring/Mattheson 1761). Nur wenige Jahre darauf reklamierte man Händel, den gebürtigen Hallenser und englischen Staatsbürger, in Deutschland für die – noch nicht vorhandene – deutsche Nation: Händel wurde Teil des deutschen Kulturerbes, ja mehr noch: ein Element nationaler Selbstdefinition.
Spätestens seit etwa 1800 war man sich auch bewusst, dass Händels Musik die Fähigkeit haben konnte, ihre Zuhörer nicht nur mitzureißen, sondern sich auch zum „integrirenden Theil des Ganzen” zu machen (Friedrich Rochlitz 1802), zum begeisterten Element einer großen Gemeinschaft. Wiederum nicht ganz ein halbes Jahrhundert darauf, kurz nach der Revolution von 1848, wurde dem Komponisten und seiner Musik eine weitere Funktion zugewiesen. Der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus – selbst eine eminent politische Figur, 1837 wegen seines Protestes gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung vom König des Landes verwiesen, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1853 des Hochverrats beschuldigt und zu Festungshaft verurteilt –, Gervinus also stilisierte Händel zum ästhetisch-politischen Fluchtpunkt in den „Verirrungen” einer „zerrissenen Zeit”, seine Musik zum „sittlichen Bildungsmittel” mit „veredelnden und kräftigenden Wirkungen” (Shakespeare, Leipzig 1850): Händel als Vorbild, Erzieher und Retter seines Volkes in der Krise. Was früher als Wirkung der Musik Händels gegolten hatte, deutete Gervinus nun als Wirkungsabsicht des Komponisten; er sprach von Händels „Drang nach einem Wirken in der großen Gemeinsamkeit des Volkes”, seiner „Richtung auf Öffentlichkeit und Volksthümlichkeit” und dem Willen, auf der „Weltbühne” zu wirken. Dass all dies Projektionen sind, durch kein historisches Dokument aus dem Umkreis Händels zu belegen, war hier wie so oft in der Rezeptionsgeschichte des Komponisten unerheblich und tat der Selbstgewissheit, mit der solche Deutungen vorgetragen wurden, keinerlei Abbruch.
Die Händels Kompositionen zugesprochenen Qualitäten der Größe und Erhabenheit, ihr starker Effekt, ihre Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit und ihr Vermögen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu suggerieren, ließen diese Schöpfungen jedenfalls über die Jahrhunderte hinweg prädestiniert erscheinen, wo man darauf abzielte, mit Musik auf das ‚Volk’ zu wirken, Menschenmengen hinzureißen, sie zu überwältigen, ihnen große Bilder vor Augen zu stellen und Erhabenes zu beschwören, kurz: Musik als Medium der ideologisch-politischen Manipulation zu nutzen – umso mehr, wenn diese Musik und ihr Komponist national-patriotisch vereinnahmt waren und man dem einen wie dem anderen mehr oder minder überzeugend zentrale Qualitäten der eigenen Weltanschauung zugeschrieben hatte. Gleichgültig, ob Händel im deutschen Kaiserreich zu einem Komponisten stilisiert wurde, der seine Chöre befehligt wie Feldmarschall Moltke das preußische Heer (Herrmann Nietschmann 1885), ob man seine Oratorien in der Weimarer Republik zur „ersten demokratischen Kunstgattung” erklärte (Hermann Abert 1921), sie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zur Apotheose des Gedankens der „Volksgemeinschaft” machte oder ihnen in der DDR „klassenkämpferischen Inhalt” zuschrieb – das politisch-ideologische (partiell auch: das kommerzielle) Interesse an Händel und seiner Musik ist ohne den Mythos von Händels enger Verbindung zum ‚Volk’ nicht denkbar.
Das Verständnis von Händel als Aufklärer ist eng mit diesen Dimensionen verbunden: Ein Komponist wird darin gefeiert, der die aufgeklärten Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in seinen Oratorien zum Ausdruck gebracht habe, vor allem die Idee einer Befreiung des Volkes aus Knechtschaft und Unterdrückung. Jenseits der durchaus ungeklärten Frage, wie stark Händel in seinen Lebzeiten tatsächlich mit der Aufklärungskultur verbunden war, hat sich dieser Topos vor allem in der Kulturpolitik der DDR und ihrer spezifisch marxistischen Interpretation des Aufklärungsbegriffs verfestigt. Die Frage nach der propagandistisch-ideologisch untersetzten Rezeption Händels als einem Vertreter der Aufklärung gewinnt dadurch besondere Aktualität und Brisanz, dass in neueren Untersuchungen zum Begriff und zur Geschichte der Aufklärung die Position vertreten wird, dass „Aufklärung […] kein Geschichtsnarrativ, sondern eine polemische Selbstinszenierung auf der Grundlage eines Geschichtsnarrativs” und damit auch stets „eine diskursive Schöpfung sozialer Hierarchien” war (Andreas Pecar, Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt/New York 2015, S. 32). Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Sicht auf das Phänomen auch die Betrachtung seiner Wirkungsgeschichte verändert: Von Beginn an erscheint Aufklärung als eine Geschichte der politischen Instrumentalisierungen im Dienste von Partikularinteressen.
In der Tagung sollen einzelne Aspekte dieser beiden Paradigmen herausgegriffen, beleuchtet und in den Diskussionen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei soll auch geklärt werden, ob die beiden Topoi ein historisches Substrat in der Musik und Persönlichkeit Händels besitzen oder als reine Konstruktionen zum ‚Mythos Händel’ beitragen. Der Schwerpunkt liegt auf den Varianten der politisch-ideologischen Instrumentalisierung Händels, wie man sie unter Verweis auf die Topoi des Volkes und der Aufklärung zu erreichen suchte. Erörtert werden aber auch künstlerische Formen der kritischen Distanzierung von derartigen Vereinnahmungen. Die Frage nach einer historischen Verortung Händels in der Aufklärungsbewegung seit dem frühen 18. Jahrhundert wird ebenso einbezogen wie die aktuelle Diskussion um eine heutige ‚aufgeklärte’ medienpädagogische Vermittlung der Musik Händels. Thematisiert wird außerdem die ideologische Indienstnahme Händels in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in den späten Jahren der Weimarer Republik, die Rolle Händels in der Alte-Musik-Bewegung in den Niederlanden im 20. Jahrhundert, die Geschichte der Händel-Pflege in Karlsruhe und – last but not least – die Umfunktionalisierung einer geistlichen Vokalkomposition Händels zur Hymne der Champions League.
Juliane Riepe / Wolfgang Hirschmann