Der Internationale Händel-Forschungspreis 2021 wurde im Rahmen einer Zoom-Konferenz verliehen an
Teresa Ramer-Wünsche, Halle (Saale), für ihre Dissertation zum Thema
„Georg Friedrich Händels Parnasso in festa. Historisch-kritische Edition und Einzelstudien zur Werkgenese“.
Halle (Saale), 31. Mai 2021
Der Internationale Händel-Forschungspreis ist mit 2 000 € dotiert und wird vergeben
mit freundlicher Unterstützung der Stiftung der Saalesparkasse.
Mit der Preisvergabe würdigt die Jury die vorliegende Arbeit als substanziellen und wichtigen Beitrag zur Händel-Forschung. Parnasso in festa sei ein bisher wegen seines Sujets und kompilatorischen Charakters unterschätztes Werk Händels, das jedoch bei eingehender Betrachtung für die Forschung aufschlussreiche Ansatzpunkte biete. Frau Ramer-Wünsche habe die editorischen Probleme dieses schwierigen Werkes mit wissenschaftlicher Genauigkeit und musikalischer Kompetenz sehr gut gelöst und zudem die unübersichtliche Quellenlage so anschaulich und verständlich geordnet und dargestellt, dass dem Leser der Zugang leicht falle. In den Einzelstudien des zweiten Teils lege die Autorin unter anderem detaillierte Untersuchungen zur Entlehnungspraxis im Hinblick auf den Wechsel vom Englischen ins Italienische vor, die in der Forschung noch weitgehend ein Desiderat seien.
Grußworte überbrachten Dr. Jürgen Ude, Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung des Landes Sachsen-Anhalt, Magnifizenz Prof. Dr. Christian Tietje, Rektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Prof. Dr. Friedemann Stengel, Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung und Dekan der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität, sowie Dr. Jürgen Fox, Vorstandsvorsitzender der Saalesparkasse.
Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt die Heidelberger Musikwissenschaftlerin Prof. em. Dr. Silke Leopold, Händel-Preisträgerin 2019 und Mitglied der Jury.
Laudatio für Frau Teresa Ramer-Wünsche
Herr Staatssekretär, Magnifizenz,
meine Damen und Herren,
aber vor allem: Liebe Frau Ramer-Wünsche!
Wir alle kennen diese beliebten Assoziationsspiele, bei denen man aufgerufen wird, ohne nachzudenken ein Werkzeug zu benennen, oder eine Farbe. Fast jeder von uns hat jetzt im Kopf wahrscheinlich „Hammer“ gesagt und „Rot“. Etwas anspruchsvollere Assoziationsspiele könnten nach Werken bekannter Komponisten fragen, also etwa Mozart – Zauberflöte oder Brahms – Requiem. Auch bei Händel dürfte die Antwort wohl eindeutig sein – der Messias. Unter den mehr als 600 Opera, die Händel hinterlassen hat, hat sich dieses eine so fest in das kulturelle Gedächtnis der ganzen Welt eingegraben, dass es wie ein Monument, wie ein Ehrenmal für eine Künstlerpersönlichkeit steht, die doch so viel facettenreicher war als es dieses eine Werk vermitteln könnte. Und ein Monument, gleichsam in Stein gemeißelt, war nicht einmal der Messias: Selbst in dieses Oratorium übernahm Händel ein paar musikalische Elemente aus bereits zuvor komponierten Stücken, zumeist italienischen, und passte sie an den Bibeltext in englischer Sprache an. Dass Händel ein begnadeter Wiederverwerter war, dass er bewährte Musikstücke zu neuen umschmiedete, dass er mit den verschiedenen Sprachen jonglierte und seine Kompositionen mal vom Italienischen ins Englische, mal vom Englischen ins Italienische übertrug, ist seit Langem bekannt, wenn auch immer wieder anders bewertet, selten aber im Detail hinsichtlich der Machart untersucht worden. Frau Ramer-Wünsche hat sich anhand von Händels Parnasso in festa mit eben diesen Fragen intensiv auseinandergesetzt und hochinteressante Ergebnisse zutage gefördert.
Frau Ramer-Wünsche hat sich schon früh in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn für Halle entschieden, und auch wenn Händel dabei zunächst nicht einmal im Zentrum stand, so konnte doch auch sie sich dem Sog und der Faszination nicht entziehen, die dieser Komponist auf alle ausübt, die ihm nahekommen. Nach ihrem Abitur in Bamberg studierte Frau Ramer-Wünsche Musikwissenschaft, Italianistik und Ethnologie hier in Halle und schloss ihr Studium mit einer Arbeit über – nein, nicht über Händel, sondern über Johann Sebastian Bach ab. Im Jahre 2009 war der Magister artium als wissenschaftlicher Abschluss bereits ein Auslaufmodell, aber eines, das noch eine gewisse Interdisziplinarität in der Ausbildung garantierte. Eines ihrer Nebenfächer, die Italianistik, die sie mit einem Studienaufenthalt in Genua vertiefte, sollte später für ihre Arbeit an Händels Parnasso in Festa von großer Wichtigkeit werden. Und schon vor Ende ihres Studiums begann sie in der Redaktion der Hallischen Händel-Ausgabe zu arbeiten, zunächst als Honorarkraft und schließlich als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, eine Position, die sie bis heute innehat. Sie ist also gleichsam qua Amt prädestiniert, eine Edition in der Ausgabe vorzubereiten und diese ins Zentrum einer Dissertation zu stellen – nicht irgendeine, sondern eine, die es wahrlich in sich hat.
Händels Parnasso in festa stellt den Herausgeber / die Herausgeberin vor eine Menge praktischer, aber auch vor einige grundsätzliche Probleme. Mit der so liebgewonnenen Vorstellung der Musikwissenschaft von einem musikalischen „Werk“ hat dieses Konglomerat aus Entlehnungen wenig zu tun. Als „Serenata“ bezeichnet, ist auch die Gattungszugehörigkeit so vage, dass das HWV sie nicht anders als zwischen so disparaten Stücken wie Aci, Galatea e Polifemo und Eternal Source of Light Divine einzuordnen vermochte. Und als wäre das noch nicht genug des abwesenden Werkcharakters, hat Händel bei den mehrmaligen Wiederaufnahmen immer wieder neue Ideen umgesetzt, Stücke gestrichen, andere hinzugefügt, transponiert, neu hinzukomponiert usw. Von „Urfassung“ oder „Fassung letzter Hand“, den Säulenheiligen musikwissenschaftlicher Editionskunst, ist Parnasso in festa weit entfernt, und auch der Rekurs auf den Willen des Schöpfers, wie er sich aus dem Autograph erschließen ließe, funktioniert bei dieser Partitur nur teilweise, da bis auf einige wenige autographe Seiten nur Abschriften, darunter die Direktionspartituren, vorhanden sind.
Die Hallische Händel-Ausgabe hat mit ihren klugen Editionsrichtlinien Möglichkeiten geschaffen, auch solche tohuwabohuartige Gemenge nach den Regeln der Wissenschaft editorisch zu bewältigen, und Frau Ramer-Wünsche hat diese mit Bravour umgesetzt. Von ihrer Akribie zeugen vor allem die Konkordanz der fünf Fassungen und die Übersichten über die Entlehnungen im Vorwort, aber auch der Kritische Bericht mit seinen 55 Seiten. Natürlich hat auch diese Edition alle Stadien der Überprüfung und Kontrolle durchlaufen, aber sie macht einen so souveränen Eindruck, dass man wohl davon ausgehen kann, dass diese Arbeit von Anfang an sehr verlässlich gewesen sein muss. Und es ist ihr gelungen, die komplexen und teilweise vertrackten Zusammenhänge zwischen den ursprünglichen Quellen (Athalia, Il trionfo del tempo e del disinganno, Radamisto, Musik anderer Komponisten wie Telemann) dem Leser in einer verständlichen, klaren Darstellung zu vermitteln.
Allein diese Edition wäre wohl durchaus preiswürdig. Frau Ramer-Wünsche hat aber für ihre Dissertation noch einen zweiten Teil verfasst, der unter der Überschrift „Einzelstudien zur Werkgenese“ steht. Darin untersucht sie den Entstehungsprozess, die verschiedenen Entlehnungen sowie den Librettotext. In einem weiteren Kapitel vergleicht sie die Entlehnungen hinsichtlich von Affekt, Thematik und Wortverwendung. Während die ersten Kapitel eine Art Fortschreibung und Erweiterung der Beobachtungen darstellen, die sich bereits im Vorwort der Edition und im Kritischen Bericht finden, fügt die Auseinandersetzung mit dem Librettotext der Darstellung eine neue Facette hinzu. So untersucht sie sehr genau die metrische Struktur der Verse und vergleicht bei den Entlehnungen die Vorlagen mit den neuen Texten. Interessant wird dieser Vergleich vor allem in Zusammenhang mit dem Sprachwechsel vom Englischen (Athalia) zum Italienischen (Parnasso), und die These von Frau Ramer-Wünsche, der italienische Textdichter habe sich an den komponierten Vorlagen aus Athalia orientiert, also so etwas wie Parodietexte geschrieben, erscheint an den meisten Texten so plausibel, dass es interessant wäre, diesen Befund weiterzudenken und die Unterschiede zwischen der englischen und der italienischen Textunterlegung genauer zu untersuchen. Besondere Erwähnung verdient aber vor allem das letzte der Kapitel über Affekt, Thematik und Wortverwendung. Hier stellt Frau Ramer-Wünsche fest, dass die überwältigende Mehrzahl der entlehnten Nummern den Grundaffekt beibehalten und nur einige in der italienischen Fassung einen gänzlich anderen Grundaffekt transportieren. An dieser Stelle spricht Frau Ramer-Wünsche eine prinzipielle Frage der Textvertonung an, und auch hier könnten sich weitere Überlegungen zum Verhältnis von Text und Musik, zum Sprachcharakter von Musik und zu den musikalischen Mitteln der Affektvermittlung anschließen. Solche Ausführungen hätten den Rahmen dieser Dissertation gesprengt; aber man kann wohl wenig Besseres zu einer wissenschaftlichen Arbeit sagen, als dass sie neue Fragen aufwirft und weitere Untersuchungen anregt. Auch die Schlussbemerkung von Frau Ramer-Wünsche über Parnasso in festa als einem „Resultat gemeinschaftlicher Arbeit von Komponist, Dichter und Kopist“ (S. 96) würde einige Sprengkraft in sich bergen, wollte man an dieser Stelle tatsächlich über Schaffensprozesse und Werkcharakter nachdenken wollen. Aber auch an solchen Punkten bleibt die Autorin ihrer Methode treu, sachliche und sehr präzise Detailbetrachtungen anzustellen und eher einen Beobachtungsposten einzunehmen, als sich in das Getümmel von Grundsatzdiskussionen zu stürzen.
Die Arbeit ist ein wichtiger Beitrag zur Händel-Forschung. Die Jury war sich einig, dass sie alle Kriterien für die Vergabe des Händel-Preises erfüllt, und sie hat sich nachdrücklich und ohne jede Einschränkung dafür ausgesprochen, sie mit dem Händel-Forschungspreis des Jahres 2021 auszuzeichnen. Nach sieben Jahren – 2014 wurde der Preis schon einmal an eine Edition vergeben – geht dieser Preis einmal wieder an eine editorische Arbeit, auch zum Zeichen dafür, wie wichtig solche Editionen, die weit mehr sind als bloße Noteneinrichtung, für die Händel-Forschung sind.
Liebe Frau Ramer-Wünsche, wie gern hätte ich Ihnen persönlich zu diesem Preis gratuliert, Ihnen die Hand geschüttelt und eine Urkunde überreicht. Das muss nun alles virtuell geschehen, aber statt darüber zu lamentieren möchte ich im Gegenteil meiner Freude Ausdruck geben, dass diese Pandemie immerhin in eine Zeit fiel, in der wir technisch in der Lage sind, uns über alle Entfernungen und Abstandsregeln hinweg doch irgendwie nahe zu sein. Aus meiner Studierstubenhöhle in Heidelberg gratuliere ich Ihnen im Namen der Jury wenig festlich, aber umso mehr von Herzen zu diesem Händel-Forschungspreis.
Silke Leopold