Semele

HWV 58 (I/19: Notenband mit Kritischem Bericht), herausgegeben von Mark Risinger, Kassel 2020

Nach seiner Rückkehr aus Dublin und der im Februar 1743 erfolgten Uraufführung von „Samson“, HWV 57, begann Händel am 3. Juni 1743 mit der Komposition von „Semele“, die er am 4. Juli desselben Jahres abschloss. Ähnlich wie „Hercules“, HWV 60, entspricht auch „Semele“ weder den Gattungskriterien der Oper noch des Oratoriums. In den Libretti wurde „Semele“ daher „The Story of Semele“ tituliert; die „London Daily Post“ kündigte die Aufführung von „SEMELE. After the manner of an Oratorio“ an. Letztere Bezeichnung wird „Semele“ in der anklingenden Abwertung der Komposition nicht gerecht. Es empfiehlt sich, hinsichtlich der Terminologie den Blick auf „Hercules“ zu richten: Händel verwendete hier die Bezeichnung „A New Musical Drama“. Es ist ein in Abwägung der weitaus weniger zutreffenden Alternativen getroffener Kompromiss, den Terminus des „Musikalischen Dramas“ auch für „Semele“ anzuwenden.

Noch vor der Uraufführung komponierte Händel die ursprünglich für einen Tenor vorgesehene
Partie des Athamas gänzlich neu. Insbesondere der erste Akt erfuhr im Zuge dieser Revision
massive Eingriffe. Die Frühfassung ist weitgehend rekonstruierbar. Die Uraufführung von „Semele“ fand im Covent Garden Theatre in London am 10. Februar 1744 statt. Es sangen die Sopranistin La Francesina (Semele), der Tenor John Beard (Jupiter, Apollo), der Countertenor Daniel Sullivan (Athamas), die Altistinnen Esther Young (Juno, Ino) und Christina Maria Avolio (Iris) sowie der Bassist Henry Theodore Reinhold (Cadmus, High Priest, Somnus). Eine zweite Aufführungsserie im Dezember 1744 fand ohne Daniel Sullivan statt, da die Partie des Athamas wieder von einem Tenor gesungen wurde. Ferner zeigen zahlreiche Rezitative und Arien, dass Ino, möglicherweise auch Juno, von der Sopranistin Catherine „Citty“ Clive gesungen wurden.

„Semele“ wurde nach Dezember 1744 zu Händels Lebzeiten nicht mehr aufgeführt. Die
Übernahmen aus „Semele“ in spätere Werke Händels sind von geringer Zahl; hervorgehoben seien der Chor Nr. 16 sowie die zusammengehörigen Nr. 17 (Arie) und 18 (Chor), die mit angepasster Textunterlegung in der späten Wiederaufführung von „Susanna“, HWV 66, im Jahre 1759 erklangen. Nach Händels Tod ist die erste Wiederaufführung im Jahre 1762 nachweisbar.

Die vorliegende Edition der HHA präsentiert die drei zu Lebzeiten Händels nachweisbaren
Fassungen von „Semele“. Die Rekonstruktion der im Dezember 1744 aufgeführten Spätfassung ist hinsichtlich der Quellenlage deutlich schwieriger als jene der Frühfassung: In etlichen Fällen fehlen in der Direktionspartitur die entsprechenden Einschübe für Athamas im Tenor, bei denen lediglich auf Grundlage vergleichbarer vorhandener Nummern davon ausgegangen werden kann, dass auf die Frühfassung zurückgegriffen wurde. In den wenigen Fällen, in denen selbst die Frühfassung nur fragmentarisch überliefert ist, konnten beide Anhangsfassungen nicht zur Gänze rekonstruiert werden. Zu den besonderen editorischen Herausforderungen zählte auch die Ergründung der Erstaufführungsfassung, die weder im Autograph noch in der Direktionspartitur vollständig vorliegt. Die Sekundärquellen, die überwiegend auf einer unabhängig von der Direktionspartitur entstandenen Abschrift des Autographs beruhen, boten Lösungen etlicher editorischer Probleme.

(Quelle: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jahresbericht Hallische Händel-Ausgabe 2020)