HWV 28 (II/25: Notenband mit Kritischem Bericht), herausgegeben von Graham Cummings
Die Rückkehr des italienischen Kastraten Senesino nach London erlaubte es Händel, die Titelrolle seiner einzigen neuen Oper der Spielzeit 1730/31 mit einem Star zu besetzen. Neben dem exotischen Schauplatz, der starken dramatischen Handlung und etlichen herausragenden Stücken (etwa dem Duett von Cleofide und Poro Se mai turbo il tuo riposo“ oder Erissenas Arie Son confusa pastorella“) dürfte der durchschlagende Erfolg von Poro, Re dell’Indie“ am King’s Theatre am Haymarket vor allem auf die starke Besetzung u. a. mit Senesino, Anna Maria Strada del Pò, Annibali Pio Fabri und Francesca Bertolli zurückzuführen sein. Nach der Uraufführung am 2. Februar 1731 wurde die Oper bis zum 27. März fünfzehnmal wiederholt und dabei neunmal von König George II. und Königin Caroline besucht. Diese erste Fassung der Oper ist im Hauptteil des Bandes wiedergegeben.
Die starke Publikumsresonanz und die Beliebtheit der Oper bei der königlichen Familie bewogen Händel dazu, Poro“ in der folgenden Spielzeit erneut aufzuführen, mit vier Vorstellungen zwischen dem 23. November und dem 4. Dezember 1731. Senesino behielt die Titelrolle, drei der ursprünglichen Sänger wurden jedoch ersetzt. Der Bass Antonio Montagnana löste den schwachen Giovanni Giuseppe Commano als Timagene ab, und Händel nutzte die Fähigkeiten seines neuen Sängers, um die in der Erstfassung unzureichende Darstellung des dramatisch wichtigen Timagene zu beheben. In den drei eingefügten Szenen vertonte Händel jedoch nicht Metastasios originale Texte, sondern entlehnte drei bewährte Arien aus seinen früheren Opern: aus Lotario“ Se il mar prornette calma“ (mit unverändertem Text), aus Radamisto“ (2. Fassung, Dezember 1720) Con la strage de‘ nemici“ (mit geändertem Text), aus Siroe“ Gelido in ogni vena“ (mit geändertem Text). In der für die späteren Fassungen wichtigsten Quelle, der Direktionspartitur, ist nur die Musik der ersten der drei Arien enthalten, so dass für die anderen die Quellen des jeweiligen Werkes als Editionsgrundlage dienten. Die vorangestellten Rezitative dieser beiden Arien sind textlich durch das Libretto der Aufführungen im Winter 1731 überliefert, die Musik ist editorisch ergänzt. Die zweite Fassung der Oper ist in einer Konkordanztabelle dargestellt, die neu eingefügten Stücke befinden sich im Anhang I.
Die zweite und letzte Londoner Wiederaufnahme in der Spielzeit 1736/37 brachte beträchtliche Umarbeitungen der Originalpartitur mit sich. Nachdem Senesino zur Opera of the Nobility gewechselt war, verpflichtete Händel den Altkastraten Domenico Annibali für die Spielzeit 1736/37 und ließ ihn die Titelrolle singen. Drei Arien wurden durch Stücke aus Annibalis eigenem Repertoire ersetzt: zwei stammen von Giovanni Alberto Ristori und eine von Leonardo Vinci. Händel teilte Conti die andere männliche Hauptfigur, Alessandro il Grande, zu und änderte die ursprüngliche Tenor- in eine Sopranpartie. Zusätzlich wurde sie von vier auf sechs Arien erweitert, so dass sie musikalisch derjenigen von Poro gleichrangig wurde. Händel baute für Conti zwei seiner berühmtesten Arien ein, Torrente cresciuto“ aus Siroe“ und Dopo notte atra e funesta“ aus Ariodante“. Die Rolle des Gandarte, ursprünglich eine Altpartie, wurde für John Beard (Tenor) umgeschrieben und von drei auf zwei Arien reduziert. Diejenige von Erissena wurde von fünf auf drei Arien gekürzt, und von den drei Soloszenen und Arien, die für Montagnana in der Rolle des Timagene im November 1731 eingefügt worden waren, blieb nur die erste bestehen. Diese dritte Fassung der Oper stellt eine Sammlung der besten Arien mehrerer Opern von Ristori, Vinci und Händel selbst dar und dürfte somit die interessanteste der drei Versionen sein. Anhang II bietet erstmals eine spielbare Fassung der Aufführungen von 1736/37.
(Quelle: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jahresbericht Hallische Händel-Ausgabe 2013)