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Zum Tode von Mária Vermes (1923–2018)

Eine Würdigung von Dr. Hanna John, Vizepräsidentin der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft

Mit Hochachtung und Ehrerbietung gedenke ich Mária Vermes anlässlich ihres Todestages am 10. Januar 2018. Als langjährige Konzertmeisterin des Händelfestspielorchesters hat sie die hervorragenden Aufführungen Händelscher Opern in den sechziger Jahren am hallischen Opernhaus maßgeblich beeinflusst. Ihre Arbeit wurde 1962 mit der Verleihung des Händelpreises gewürdigt. Sie war Violinprofessorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, und ich bin dankbar, ihre Studentin gewesen zu sein. Ich denke gern an die Kammermusikabende mit Mária Vermes und ihren Triokollegen – Gusztáv Szeredi-Saupe an der Viola und Anna Molnár-Saupe an der Harfe – in ihrem Hause zurück. Mária Vermes war eine herausragende Geigenvirtuosin und verständnisvolle Pädagogin.

In dankbarer Erinnerung,

Hanna John

Neuerscheinung

Predigten zu Händels Oratorium Messiah“, hrsg. von Karl Friedrich Ulrichs, Berlin 2018

Georg Friedrich Händels Oratorium „Messias“, befand Friedrich Schleiermacher, ist „eine compendiöse Verkündigung des gesamten Christentums“. Die Zusammenstellung alttestamentlicher und paulinischer Texte sowie die populären Melodien sind eine Inspiration für Predigten über zentrale Themen des Glaubens und zu verschiedenen Anlässen des Kirchenjahres. Im Berliner eb-Verlag ist jetzt eine Sammlung von 34 Predigten zu Händels Oratorium erschienen. Unter den Beiträger/innen finden sich neben Prediger/innen aus Deutschland, Schweden, Südafrika und Amerika auch Prediger/innen aus Mitteldeutschland wie Kathrin Oxen, Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur in Wittenberg, Pfarrerin Katja Albrecht aus Merseburg, der frühere Hallenser Pfarrer Martin Filitz, Pfarrer Michael Greßler aus Camburg, die Altenburger Superintendentin Kristin Jahn, der Langenleunaer Pfarrer und Musikwissenschaftler Gunnar Wiegand sowie Joachim Zirkler vom Lutherischen Weltbund (Wittenberg/Dresden). Eine musikgeschichtliche Einleitung und ausführliche Überlegungen zur Gattung der Musikpredigt trägt der Herausgeber Karl Friedrich Ulrichs bei, der am Predigerseminar Wittenberg Homiletik unterrichtet. „Eine solche Sammlung von Predigten zu einem einzigen Werk der Musikgeschichte hat es so noch nicht gegeben“, sagt der bekennende „Handelian“. Die verschiedenen Predigten verbinde, dass die Musik nicht als bloße Illustration für Predigtaussagen, sondern als Zugang zum Predigttext und als Ausdrucksform des Glaubens herangezogen werde. „Fast alle Stücke aus dem Messias sind in den Predigten ausgenommen worden“, ergänzt Ulrichs, „damit legen wir zugleich einen geistlichen Kommentar zu dieser besonderen Musik vor.“

Dr. Karl Friedrich Ulrichs ist seit 2012 Studienleiter am Evangelischen Predigerseminar Wittenberg, Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Theologischen Fakultät Leipzig und seit 2018 Herausgeber der Homiletischen Monatshefte.

2018: Musikalische Migrationsbewegungen. Musik und Musiker aus der Fremde 1650–1750

Internationale Wissenschaftliche Konferenz zu den Händel-Festspielen 2018

Das Motto der Händel-Festspiele 2018 „Fremde Welten” wird in der Wissenschaftlichen Konferenz, die die Abteilung Musikwissenschaft am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gemeinsam mit der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft und der Stiftung Händel-Haus am 28. und 29. Mai 2018 veranstaltet, in zwei Richtungen entfaltet: Zum einen soll es darum gehen, wie sich Musiker als innereuropäische Migranten in der Fremde orientierten, zum anderen darum, wie sich außereuropäische Fremderfahrungen in der Kunstproduktion manifestierten.

John Mainwarings Heldenerzählung von einem Musiker, dem an allen seinen Wirkungsstätten sofort und umstandslos die Menschen zu Füßen lagen, verdeckt bis heute die Tatsache, dass Händel sich über seine gesamte Karriere hinweg als Fremder mit Phänomenen der sprachlichen, religiösen, politischen, kulturellen und ästhetischen Alterität auseinandersetzen und sich in diesen fremden Umfeldern bewähren musste. Sei es die ‚neue Welt‘ der Oper in Hamburg, sei es die vielseitig diversifizierte Musikkultur in den italienischen Metropolen, sei es London mit seinem spezifisch zwischen nationalen (englischen) und internationalen (französisch-italienischen) Idiomen changierenden Musikleben: In all diesen unterschiedlichen Milieus musste sich Händel jeweils neu orientieren und sich um eine Vermittlung zwischen dem Eigenen, das er mitbrachte, und dem Fremden, mit dem er konfrontiert wurde, bemühen.

Diese Herausforderung teilte Händel mit vielen seiner europäischen Zeitgenossen, die sich nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges verstärkt international ausrichteten, nicht nur Komponisten, sondern auch Sängerinnen und Sängern sowie Instrumentalisten. Die Musikermigration war verbunden mit dem Transfer verschiedener musikalischer Schreibarten, Gesangspraktiken und Spielweisen in unterschiedlichste kulturelle Milieus, der Irritationen und Auseinandersetzungen auslösen, aber auch vielfältige Hybridisierungsphänomene in Gang setzen konnte.

Die Konferenz möchte dazu anregen, die Chancen, aber auch Konflikte und Herausforderungen neu zu beleuchten, die aus den musikalischen Migrationsbewegungen innerhalb Europas im Zeitraum zwischen 1650 und 1750 hervorgingen, und zugleich dazu beitragen, die Figur Händels in ihrer Symptomatik und Besonderheit innerhalb dieser Bewegungen neu zu verorten.

Dass die Wahrnehmung des Fremden und seine assimilierende ‚Verwandlung‘ ins Eigene nicht nur eine innereuropäische Problematik darstellte, sondern auch das Verhältnis Europas zu den außereuropäischen, „exotischen“ Kulturen betraf, kann an Händels Opern abgelesen werden. Während für die musikalische Darstellung des Exotischen im betrachteten Zeitraum kein eigener musikalischer Stil entwickelt wurde (Ralph P. Locke spricht von „Exotismus ohne exotischen Stil“), lassen sich für „den gesungenen Text, die Regieanweisungen, das Kostümbild, aber auch die kulturellen Einstellungen, die auf der Metaebene des Werkes liegen“, durchaus Momente eines theatralen Exotismus mit spezifischen kulturpolitischen Funktionen ausmachen (Ralph P. Locke spricht vom „Exotismus ohne exotischen Stil“). Auch hier ist zu fragen, wie sich Händels Handhabung des kulturell Fremden in Opern wie Tamerlano, Poro, Giulio Cesare, Berenice oder Tolemeo an Verfahren seiner Zeitgenossen anschließt oder von ihnen abweicht. Diese Frage stellt sich umso mehr, als das England der Händel-Zeit bereits über so viele Kolonien und außereuropäische Handelsbeziehungen verfügte, dass Zeugnisse des Fremden dort allgegenwärtig gewesen sein dürften.

In einem weiteren Sinne soll mit der Thematik dieser Konferenz auch die aktuelle Krisensituation Europas zwischen gezielter Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen und politischem Willen zur Integration des Fremden historisch reflektiert werden.

Am 26. Mai 2018, dem Samstag vor der Konferenz, wird Prof. Dr. Thomas Seedorf (Karlsruhe) mit einem Festvortrag zu „Händel, der vertraute Fremde“ in die Thematik einführen.

Programm

Samstag, 26. Mai 2018, Stadthaus am Markt

10.00 Uhr: Festvortrag

Thomas Seedorf (Karlsruhe): Händel, der vertraute Fremde

Montag, 28. Mai 2018, Händel-Haus, Kammermusiksaal

10.00 Uhr: Eröffnung der Konferenz

Begrüßung und Einführung: Wolfgang Hirschmann (Halle)

Musikalische Gestaltung: Studierende des Instituts für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

10.30–12.00 Uhr: Sektion I

Reinhard Strohm (Oxford): Türken, Inder, Indianer: Abstufungen des Zivilisationsmythos im Musiktheater der Händelzeit

Matthew Gardner (Tübingen): Italian Opera for the English Taste: Handel’s Creative Choices in his Early London Operas 1711–1715

13.30–15.00 Uhr: Sektion II

Donald Burrows (Milton Keynes): ‘To set the Italian performers in the most contemptible Light possible, they are individiously represented as a Set of Beggars’. The representation of the London opera company in 1745

Berthold Over (Mainz): Paradigmen musikalischer Mobilität: Händels Pasticci

15.30–17.00 Uhr: Sektion III

Ivan Ćurković (Zagreb): Handel as Outsider in the World of Opera Seria in London. Attempts at a Comparison with a Special Emphasis on Duets and Ensembles

Graydon Beeks (Claremont): Sir George Smart’s adaptation of Mozart’s orchestration of Messiah

17.30 Uhr: Führung durch die Ausstellung „So fremd, so nah”

Dienstag, 29. Mai 2018, Händel-Haus, Kammermusiksaal

10.00–12.15 Uhr: Sektion IV

Juliane Riepe (Halle): Ideologeme der Musikermigration

John H. Roberts (Berkeley): Rosenmüller in Italy: Traces of a Shadowed Life

Margret Scharrer (Saarbrücken): Zwischen Orient und Okzident: Musikerreisen abseits europäischer Wege

13.30–15.00 Uhr: Sektion V

David Vickers (Manchester): Giulia Frasi in English music

Vassilis Vavoulis (Athen): Whose ‘exotic’ is it? Reassessing exoticism in Handel’s opera librettos

15.30–17.00 Uhr: Sektion VI

Livio Marcaletti (Wien): Zwischen Politik, Spiel und Neugier: Das Fremde in venezianischen Libretti um 1700

Alison C. DeSimone (Kansas City): “Lov’d at home and fear’d abroad”: The War of the Spanish Succession in English Song and On the Stage

Schlusswort

17.30 Uhr: Führung durch die Redaktion der Hallischen Händel-Ausgabe

Wissenschaftliche Konferenz 2018

Der Flyer der Konferenz zum Download:
Flyer Händel-Konferenz 2018 [4.5MB/pdf]

Die Programmbroschüre zum Download:
Programmbroschüre 2018 [147KB/pdf]

Call for papers

Termin für Referatsanmeldungen: 30. September 2017

2018 Call for papers_deutsch [87.4KB/pdf]

2018 Call for papers_english [93.4KB/pdf]

2017: Zwischen Originalgenie und Plagiator. Händels kompositorische Methode und ihre Deutungen

Beitragsbild Konferenz 2017

6. und 7. Juni 2017

Georg Friedrich Händel hat wie vielleicht kein zweiter Komponist seiner Epoche fremdes Material zur Grundlage eigener Werke genommen. Diese sogenannten „borrowings“ („Entlehnungen“) betreffen alle Werkgruppen seines Oeuvres und eine Vielzahl von Stücken unterschiedlichster Provenienz, aus denen sich Entlehnungen nachweisen lassen. Diesen Fremdentlehnungen stehen außerdem (in wahrscheinlich noch größerer Zahl) Übernahmen aus eigenen Werken gegenüber. Von Händel selbst ist eine Reihe von Manuskripten überliefert, in denen er aus Kompositionen anderer Musiker Exzerpte vorgenommen hat; aber die eigentliche Dimension der Entlehnungspraxis Händels lässt sich nur durch analytische Vergleiche erschließen.

Seit die Händelforschung im 19. Jahrhundert auf die ubiquitäre Entlehnungs- und Bearbeitungspraxis Händels aufmerksam geworden ist, hat sie versucht, Erklärungs- und Bewertungsansätze für diese kompositorische Praxis zu formulieren, die zwischen der Verteidigung des Originalgenies und der Verurteilung des Plagiators schwanken. Neuere Forschungen haben einen eher neutralen Zugang favorisiert, der zunächst einmal versucht, einen Überblick der verschiedenen Bearbeitungsvorgänge und ihres jeweiligen Ausmaßes sowie Charakters zu gewinnen. Diese Forschungen sind beileibe nicht abgeschlossen (vielleicht auch gar nicht abschließbar); aber immerhin liegt inzwischen ein großes Korpus von Nachweisen vor, mit dem sich ein systematisierender Zugriff auf das Phänomen erproben lässt.

Die Konferenz möchte nicht nur Beiträge zur Systematisierung und weiteren Erforschung der Händel’schen Entlehnungspraxis anregen, sondern auch ihre ideengeschichtlichen und kunsttheoretischen Grundlagen thematisieren, so etwa die Theorie der eklektischen Nachahmung (englisch „transformative imitation“) oder die frühneuzeitliche Exzerpierkunst (ars excerpendi). In einem dritten Themenkomplex schließlich soll die Geschichte der Deutungen der Händel’schen Bearbeitungspraxis beleuchtet werden, die bereits Sedley Taylor in seiner 1906 erschienenen grundlegenden Studie zu einer über zwanzigseitigen Abhandlung über die Frage anregte, ob „Handel’s mode of dealing with compositions by other Masters was morally justifiable”.

Wolfgang Hirschmann, Halle

Ablauf der Konferenz

Dienstag, 6. Juni 2017 — 10.00–12.00 Uhr

Eröffnung der Konferenz und Verleihung des Händel-Forschungspreises

Vortrag der Preisträgerin / des Preisträgers

Musikalische Gestaltung:
Studierende der Abteilung Musikpädagogik des Instituts für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 

Sektion I: 13.00–14.45 Uhr

Annette Landgraf (Halle)
Händels Ankläger und seine Verteidiger

Andreas Waczkat (Göttingen)
Imitatio und Aemulatio: Die Brockes-Passion HWV 48 als stilprägendes Vorbild der englischen Oratorien

Rainer Kleinertz (Saarbrücken)
Typen der Übernahme bei Händel und ihre Bedeutung

Sektion II: 15.15–17.00 Uhr

Roberto Scoccimarro (Köln)
Händel und die italienischen Opernkomponisten zwischen Spätbarock und „stile moderno“: Formen des Entlehnungsverfahrens

Panja Mücke (Mannheim)
Entwickelnde Improvisation? Händels Opern zwischen Exzerpt und Entlehnung

Reinmar Emans (Hamburg)
Zwischen Sammlung von Exempla classica und Zitaten „a mente”

Mittwoch, 7. Juni 2017 — Sektion III: 9.00–10.45 Uhr

Graydon Beeks (Claremont)
Handel’s adaptation of material from his Italian psalms in his Cannons Anthems

Donald Burrows (Milton Keynes)
From St Lawrence’s to St James’s: Handel’s recomposition of Cannons music for the Chapel Royal

Matthew Gardner (Frankfurt a. M.)
Borrowing in Deborah: Convenience or Careful Selection?

Sektion IV: 11.00–12.45 Uhr

Teresa Ramer-Wünsche (Halle)
Händels Entlehnungsverfahren unter Berücksichtigung des Affektgehalts in seiner Serenata Parnasso in festa am Beispiel der Übernahmen aus Athalia

Silas Wollston (Cambridge)
A continuum of creative refinement: Handel’s use of pre-existing musical material in the St Cecilia Ode and the Grand Concertos

Jonathan Rhodes Lee (Las Vegas)
Borrowing in Joseph and His Brethren 

Sektion V: 13.45–15.00 Uhr

Mark P. Risinger (New York)
Handel’s Compositional Method and Its Interpretations

John H. Roberts (Berkeley)
Solemn sounds: Handel’s Borrowed Fugues 

Sektion VI: 15.15–17.00 Uhr

Wolfram Enßlin (Leipzig)
Zwei Originalgenies als Plagiatoren? Carl Philipp Emanuel Bach, Georg Friedrich Händel und ihre Bearbeitungspraxis im Vergleich

Julia Ronge (Bonn)
Händels Lorbeerkranz – Beethoven rezipiert den „größten Componisten, der je gelebt hat”

Christine Siegert (Bonn)
Ludwig van Beethoven: Zur Entlehnungspraxis eines Originalgenies

Schlusswort

Blatt aus Sammelband mit utographen Fragmenten von Werken Händels
Foto: Fitzwilliam Museum, Cambridge

Eigene musikalische Einfälle Händels sowie Notizen und Skizzen aus den Componimenti musicali per il cembalo von Gottlieb Muffat (1690–1770), die Händel u. a. für einige Sätze der Cäcilienode, HWV 76, verwendete. Das Blatt ist enthalten in einem autographen Sammelband mit Händel-Werken, einzelnen Sätzen aus verschiedenen Werken Händels und Fragmenten, der in Cambridge im Fitzwilliam Museum aufbewahrt wird (GB-Cfm, MU MS 262, S. [62]).

Flyer mit Ablauf [1.6MB/pdf]

Die Programmbroschüre [83.1KB/pdf]

2016: Mythos Aufklärer – Mythos Volk? Zwei Topoi der Händel-Rezeption und ihre Kontexte

30. und 31. Mai 2016

Mit dem Thema „Mythos Aufklärer – Mythos Volk? Zwei Topoi der Händel-Rezeption und ihre Kontexte” fügt sich die Internationale Händel-Konferenz 2016 eng in die Händel-Festspiele ein, die unter dem Motto „Geschichte – Mythos – Aufklärung” stehen.

Georg Friedrich Händel war nicht nur einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit, er gehört auch zu den ersten Komponisten der europäischen Musikgeschichte, die als ‚große’ Musiker im Denken und Schreiben über Musik präsent blieben und deren Werk kontinuierlich aufgeführt wurde. Die Geschichte der Rezeption Händels verlief allerdings nicht geradlinig; sie weist Brüche und Widersprüche auf, aber auch Konstanten, von denen einige bis in die Gegenwart reichen und unser Bild von Händel und unseren Umgang mit seiner Musik – bewusst oder unbewusst – maßgeblich prägen.

Eine dieser Konstanten ist der für die Rezeption des Komponisten und seiner Musik zentrale Topos von Händels (angeblich) enger Verbindung zum ‚Volk’. Bereits in der frühesten Händel-Biographie (John Mainwarings Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel, London 1760) werden zwei wichtige Aspekte miteinander verknüpft: Händel – so heißt es – habe seinen musikalischen Geschmack nach dem seiner deutschen Landsleute geformt. Seine Musik mit ihren „sublime strokes” wiederum spreche nicht nur den Kenner an, sondern jedermann („durch seine erhabne Züge, deren er viel hat, wirket er mit eben der Stärke sowol auf die Klügsten, als auf die Unwissenden”; Mainwaring/Mattheson 1761). Nur wenige Jahre darauf reklamierte man Händel, den gebürtigen Hallenser und englischen Staatsbürger, in Deutschland für die – noch nicht vorhandene – deutsche Nation: Händel wurde Teil des deutschen Kulturerbes, ja mehr noch: ein Element nationaler Selbstdefinition.

Johann Arnold Ebert, An den Herrn C. A. Schmid. 1772 im May, in: Johann Arnold Ebert’s Episteln und vermischte Gedichte, Hamburg 1789, S. 76–114, hier S. 88.

Spätestens seit etwa 1800 war man sich auch bewusst, dass Händels Musik die Fähigkeit haben konnte, ihre Zuhörer nicht nur mitzureißen, sondern sich auch zum „integrirenden Theil des Ganzen” zu machen (Friedrich Rochlitz 1802), zum begeisterten Element einer großen Gemeinschaft. Wiederum nicht ganz ein halbes Jahrhundert darauf, kurz nach der Revolution von 1848, wurde dem Komponisten und seiner Musik eine weitere Funktion zugewiesen. Der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus – selbst eine eminent politische Figur, 1837 wegen seines Protestes gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung vom König des Landes verwiesen, 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, 1853 des Hochverrats beschuldigt und zu Festungshaft verurteilt –, Gervinus also stilisierte Händel zum ästhetisch-politischen Fluchtpunkt in den „Verirrungen” einer „zerrissenen Zeit”, seine Musik zum „sittlichen Bildungsmittel” mit „veredelnden und kräftigenden Wirkungen” (Shakespeare, Leipzig 1850): Händel als Vorbild, Erzieher und Retter seines Volkes in der Krise. Was früher als Wirkung der Musik Händels gegolten hatte, deutete Gervinus nun als Wirkungsabsicht des Komponisten; er sprach von Händels „Drang nach einem Wirken in der großen Gemeinsamkeit des Volkes”, seiner „Richtung auf Öffentlichkeit und Volksthümlichkeit” und dem Willen, auf der „Weltbühne” zu wirken. Dass all dies Projektionen sind, durch kein historisches Dokument aus dem Umkreis Händels zu belegen, war hier wie so oft in der Rezeptionsgeschichte des Komponisten unerheblich und tat der Selbstgewissheit, mit der solche Deutungen vorgetragen wurden, keinerlei Abbruch.

Die Händels Kompositionen zugesprochenen Qualitäten der Größe und Erhabenheit, ihr starker Effekt, ihre Allgemeinverständlichkeit und Volkstümlichkeit und ihr Vermögen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu suggerieren, ließen diese Schöpfungen jedenfalls über die Jahrhunderte hinweg prädestiniert erscheinen, wo man darauf abzielte, mit Musik auf das ‚Volk’ zu wirken, Menschenmengen hinzureißen, sie zu überwältigen, ihnen große Bilder vor Augen zu stellen und Erhabenes zu beschwören, kurz: Musik als Medium der ideologisch-politischen Manipulation zu nutzen – umso mehr, wenn diese Musik und ihr Komponist national-patriotisch vereinnahmt waren und man dem einen wie dem anderen mehr oder minder überzeugend zentrale Qualitäten der eigenen Weltanschauung zugeschrieben hatte. Gleichgültig, ob Händel im deutschen Kaiserreich zu einem Komponisten stilisiert wurde, der seine Chöre befehligt wie Feldmarschall Moltke das preußische Heer (Herrmann Nietschmann 1885), ob man seine Oratorien in der Weimarer Republik zur „ersten demokratischen Kunstgattung” erklärte (Hermann Abert 1921), sie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zur Apotheose des Gedankens der „Volksgemeinschaft” machte oder ihnen in der DDR „klassenkämpferischen Inhalt” zuschrieb – das politisch-ideologische (partiell auch: das kommerzielle) Interesse an Händel und seiner Musik ist ohne den Mythos von Händels enger Verbindung zum ‚Volk’ nicht denkbar.

Das Verständnis von Händel als Aufklärer ist eng mit diesen Dimensionen verbunden: Ein Komponist wird darin gefeiert, der die aufgeklärten Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in seinen Oratorien zum Ausdruck gebracht habe, vor allem die Idee einer Befreiung des Volkes aus Knechtschaft und Unterdrückung. Jenseits der durchaus ungeklärten Frage, wie stark Händel in seinen Lebzeiten tatsächlich mit der Aufklärungskultur verbunden war, hat sich dieser Topos vor allem in der Kulturpolitik der DDR und ihrer spezifisch marxistischen Interpretation des Aufklärungsbegriffs verfestigt. Die Frage nach der propagandistisch-ideologisch untersetzten Rezeption Händels als einem Vertreter der Aufklärung gewinnt dadurch besondere Aktualität und Brisanz, dass in neueren Untersuchungen zum Begriff und zur Geschichte der Aufklärung die Position vertreten wird, dass „Aufklärung […] kein Geschichtsnarrativ, sondern eine polemische Selbstinszenierung auf der Grundlage eines Geschichtsnarrativs” und damit auch stets „eine diskursive Schöpfung sozialer Hierarchien” war (Andreas Pecar, Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt/New York 2015, S. 32). Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Sicht auf das Phänomen auch die Betrachtung seiner Wirkungsgeschichte verändert: Von Beginn an erscheint Aufklärung als eine Geschichte der politischen Instrumentalisierungen im Dienste von Partikularinteressen.

In der Tagung sollen einzelne Aspekte dieser beiden Paradigmen herausgegriffen, beleuchtet und in den Diskussionen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei soll auch geklärt werden, ob die beiden Topoi ein historisches Substrat in der Musik und Persönlichkeit Händels besitzen oder als reine Konstruktionen zum ‚Mythos Händel’ beitragen. Der Schwerpunkt liegt auf den Varianten der politisch-ideologischen Instrumentalisierung Händels, wie man sie unter Verweis auf die Topoi des Volkes und der Aufklärung zu erreichen suchte. Erörtert werden aber auch künstlerische Formen der kritischen Distanzierung von derartigen Vereinnahmungen. Die Frage nach einer historischen Verortung Händels in der Aufklärungsbewegung seit dem frühen 18. Jahrhundert wird ebenso einbezogen wie die aktuelle Diskussion um eine heutige ‚aufgeklärte’ medienpädagogische Vermittlung der Musik Händels. Thematisiert wird außerdem die ideologische Indienstnahme Händels in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in den späten Jahren der Weimarer Republik, die Rolle Händels in der Alte-Musik-Bewegung in den Niederlanden im 20. Jahrhundert, die Geschichte der Händel-Pflege in Karlsruhe und – last but not least – die Umfunktionalisierung einer geistlichen Vokalkomposition Händels zur Hymne der Champions League.

Juliane Riepe / Wolfgang Hirschmann

Programm und Abstracts [146.6KB/pdf]

Programmflyer [3.5MB/pdf]