Sektion VII/2
Florian Csizmadia, Stralsund
Zur Rezeption des Messiah im Viktorianischen Zeitalter
War die Aufführungstradition des Messiah in England eine durchgehende von Georg Friedrich Händels Lebzeiten bis ins 21. Jahrhundert, so war sie doch insbesondere im 19. Jahrhundert stark verfälscht. Im Viktorianischen Zeitalter sind dabei mehrere miteinander verbundene Themenkreise auszumachen:
In der Aufführungspraxis ist eine beispiellose Monumentalisierung (besonders im Rahmen der Londoner Handel Festivals) auszumachen, die sich zwar in Ansätzen auf die Handel Commemoration 1784 berufen konnte, nun aber Dimensionen erreicht hatte, bei denen sich die Aufführungen von Händels originaler Werkgestalt weit entfernt hatten. In diesem Zusammenhang spielen auch die dezidiert als Verbesserungen von Händels Original angesehenen Neu-Orchestrierungen (seinerzeit bekannt als additional accompaniments) eine Rolle. Besetzungszahlen sind dabei aus historischen Konzertprogrammen und Zeitungsberichten recht zuverlässig rekonstruierbar.
Der Stellenwert des Messiah als meist aufgeführtes Chorwerk des damaligen Repertoires brachte es mit sich, dass sich eine starke Institutionalisierung ausprägte: Im Sinne eines (aus heutiger Sicht problematischen oder doch zu hinterfragenden) Traditionsbewusstseins wurden Aufführungen in der Regel nicht geprobt, erhielten dadurch aber einen gleichsam rituellen oder liturgischen Charakter und galten nach zeitgenössischen Berichten gleichsam als eine Art ‚Gottesdienst-Surrogat‘ und „service in itself“ (Henry Lunn 1870). So gab es Perioden im Londoner Musikleben, in denen es täglich (!) eine Aufführung des Messiah gab, wie das Werk auch bei den Chorfestivals in der englischen Provinz die feste Konstante eines ansonsten variablen Programms war.
Eine inhaltliche Akzentverschiebung fand zudem statt, weil sich der ursprünglich von Charles Jennens und Händel intendierte theologische Aspekt zunehmend überlagerte mit einer unreflektiert auf den Messiah übertragenen Händel-Verehrung im Sinne eines Händel-Kults, in dessen Rahmen sich die Verehrung Gottes und die Händels vermischten. So wurde 1885 die Tradition, das „Halleluja“ im Stehen anzuhören, damit ‚erklärt‘, dass sich das Publikum zu Ehren von Händels „divine inspiration“ erhebe.
Auch wenn es anachronistisch erscheinen mag, so kann man konstatieren, dass auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus der Messiah zeitweise das Äquivalent zu den Nationalopern der anderen europäischen Nationalschulen darstellte (so bereits Hanslick 1862).
In das spätviktorianische Zeitalter fallen jedoch auch erste Anzeichen einer substanziellen Kritik an der zeitgenössischen Aufführungspraxis und Werksicht des Messiah, die zunehmend als „Handelomania“ und „Handel Fetish“ beargwöhnt wurden. Zu erwähnen sind insbesondere die musikjournalistischen Arbeiten von George Bernard Shaw: Er hat nicht nur die Defizite der zeitgenössischen Messiah-Rezeption erkannt und benannt, sondern lässt in seinen brillant formulierten Rezensionen und Essays Alternativen anklingen, die auf die noch weit in der Zukunft liegende historisch informierte Aufführungspraxis verweisen.